In der Theorie klingen viele Methoden und Tipps gut und rational nachvollziehbar. Doch häufig setzen wir uns erst in Bewegung, wenn sie uns berühren und zu Herzen gehen. Unter der Rubrik „Lebendige Beispiele“ stelle ich Euch Menschen aus meinem Umfeld vor, die es geschafft haben. Sie hatten eine Vision, die sie intrinsisch motiviert und die sie konsequent – wenn zum Teil auch über einen langen Zeitraum, mit vom Verstand geprägten Zweifeln oder unter großer Anstrengung – verfolgt haben. Ihr Antrieb speist sich durch ihre innere Überzeugung, ihr Erfolg steht ihnen gut.
Ferhat Bouda – Fotograf
Im Juni 1998 leihte sich der damals 22-jährige Ferhat Bouda, algerischer Staatsbürger aus der berbisch sprechenden Kabylei, eine Kamera von seinem Nachbarn, um eine Demonstration gegen die Hinrichtung eines beliebten Berbers zu fotografieren. Es war das erste Mal, dass er durch die Linse auf das Geschehen blickte, und im wahrsten Sinne augenblicklich war ihm seine Mission – Mit Bildern auf das Leben und die Unterdrückung der Berber aufmerksam zu machen – zwar intuitiv klar, aber nicht bewusst. Diesen ersten Ausflug mit der Kamera bezahlte er übrigens mit einem dreitägigen Aufenthalt im Gefängnis und gleichzeitig gewann er dadurch seine Leidenschaft, die Fotografie.
18 Jahre später, am 21. Januar 2016 – Ferhat wohnt mittlerweile in Frankfurt und ist mit meiner Schwester verheiratet – wird eine Fotoreportage seiner Werke über das Leben der Berber und Kabylen in Nord Afrika in der New York Times veröffentlicht. Damit ist Ferhat seiner Mission gefolgt und er hat seine Vision wahrgemacht .
„Ferhat, erzähl bitte mal, wie Du aufgewachsen bist und wie Du dazu kamst, Dir die Kamera bei Deinem Nachbarn auszuleihen.“
„Ich bin 1976 geboren und wuchs in einem kleinen Dorf namens Bouzeguene zusammen mit meinen Bruder und meinen beiden Schwestern auf. Meine Mutter und meine Großmutter haben uns liebevoll aufgezogen, weil mein Vater 1977 nach Frankreich auswanderte, um dort zu arbeiten. Er starb 1990 bei einem Autounfall auf dem Rückweg von Frankreich nach Algerien. Die beiden Frauen arbeiteten sehr hart, damit meine Geschwister und ich immer gut versorgt waren und zur Schule gehen konnten. Die Winter in der Kabylei sind außergewöhnlich streng und man muss sich während der restlichen Monate gut darauf vorbereiten. Noch heute bewirtschaften sie Olivenfelder und stellen Olivenöl her.
1994/1995 boykottierten wir den Besuch unserer Schule, da die berbische Sprache nicht mehr gelehrt wurde und uns verboten wurde sie zu sprechen. Es tat mir weh, dass wir damit einen Teil unserer Identität aufgeben sollten und so keimte in mir die Idee über diesen Missstand aufmerksam zu machen. Wir nutzten die Schulklassen um unseren eigenen Unterricht in Form von Theater, Musik und Sport zu machen. Unser Motto: Wir sind Berber und haben nicht für die Unabhängigkeit gekämpft, um sie jetzt aufzugeben.
1998 wurde der bekannte kabylische Sänger Matoub Lounes grausam von der algerischen Militärdiktatur hingerichtet. Am nächsten Tag demonstrierten die Menschen aus meiner Heimat gegen die Brutalität seiner Mörder. Diesen historischen Moment – Rebellion und Proteste gab es bis dahin kaum in Algerien – wollte ich im Bild festhalten. Und so lieh ich mir bei meinem Nachbarn seine Kamera ohne überhaupt zu wissen, wie sie zu bedienen war. Ich fotografierte die Demonstranten instinktiv. Doch schon nach kurzer Zeit nahmen mich die Sicherheitskräfte, die die Demonstration verhindern wollten, fest und brachten mich zur Polizeistation, wo ich drei Tage lang in der Zelle saß. Zur Beerdigung von Matoub Lounes ließen sie mich und einige andere Festgesetzte wieder frei. Einige Monate später erhielt ich ein gerichtliches Mahnverfahren. Zu meiner großen Überraschung ging es darin nicht um ein Verbrechen gegen die Staatsgewalt, sondern um eine Anklage wegen Diebstahls einer Kamera! Am Tag meines Freispruchs bekam ich die Kamera zurück und so komisch es auch klingen mag, in diesem Moment war meine Leidenschaft für die Fotografie geweckt.“
„Wie ging es nachdem Du Deine Leidenschaft entdeckt hattest für Dich weiter? Was waren Deine nächsten Schritte?“
„Im Jahr 2000 zog ich nach Paris. Im Gepäck hatte ich die Idee einen Film in berbisch zu drehen, da meine Großmutter ausschließlich diese Sprache spricht. Bei dieser Idee war auch viel Eigennutz dabei, denn in Algerien haben wir nur französische und arabische TV Programme, weshalb ich ihr die Sendungen ständig übersetzen musste.
Einige Monate nach meiner Ankunft in Paris fand ich in einer verlassenen Fabrikhalle eine Kamera. Das war für mich eine großartige Gelegenheit meine „visuelle Sprache“ zu entwickeln. Meine größte Entdeckung war die Dunkelkammer. Um darin arbeiten und mit schwarz-weiß Filmen experimentieren zu können, schrieb ich mich für einen Tag in der Woche in einer Hochschule für Design und Fotografie ein. Hier lernte ich alle Dimensionen der Fotografie kennen. Um mir das leisten zu können, arbeitete ich überall, wo ich Geld verdienen konnte, z.B. am Bau und auf Wochenmärkten.
In 2001, während des „Schwarzen Frühlings“ in der Kabylei, wurden 127 junge Demonstranten von Militärs getötet. In ganz Europa wurden daraufhin Kundgebungen von im Ausland lebenden Kabylen veranstaltet, um sich mit den Landsleuten zu solidarisieren. Bis dahin hatte ich nicht daran gedacht, für meine Mission – auf die Unterdrückung der Berber aufmerksam zu machen – die Kamera einzusetzen. Doch das Massaker führte dazu, dass ich Bilder von meinen Landsleuten in Frankreich machte.“
„Und dann hast Du konsequent Deine Leidenschaft Fotografie mit Deiner bewusst gewordenen Mission, auf die Unterdrückung der Berber aufmerksam zu machen, verbunden?“
„Oh nein, leider habe ich 9 Jahre gebraucht, um mir meine Vision und Identität, ein Fotograf für Reportagen zu werden, einzugestehen und sie zu verfolgen. Ohne den Suchprozess und die Unterstützung vieler Menschen aus meinem Umfeld – u.a. auch dank Deiner Coachings – würde ich jetzt Hobbyfotograf sein und andere Jobs machen, nur um Geld zu verdienen. Oft habe ich an meinem Können gezweifelt, doch ich bekam von unterschiedlichen Seiten immer wieder Zuspruch und so blieb ich dran.“
„Wie kam es dazu, dass Du Dich in 2010 dann doch entschieden hast Fotograf für Reportagen zu werden und warum hast Du Dich dann dem Leben der Berber verschrieben?“
„Meine Beziehung zur Fotografie wurde immer stärker und wenn ich fotogafiert habe, war ich glücklich. Ich habe einfach immer auf mein Gefühl und mein Herz gehört. Zudem kam hinzu, dass mein Aushilfsjob auf der Kippe stand. Das HINZU wurde also immer stärker und das WEG VON kam gerade recht.
Bis dahin machte ich nur Bilder. Mit der konsequenten Aufstellung als Profi-Fotograf, bekam ich eine andere Selbstdefinition und eine große Verantwortung. Ich verstehe mich seitdem als Botschafter. Meine Reportagen beschäftigten sich zunächst mit der Mongolei und mit Punks in Deutschland.
Warum dann die Berber? Wie vorher geschildert waren sie schon immer ein Bestandteil meiner fotografischen Arbeit. Seitdem ich jedoch meine Rolle als Botschafter habe, sehe ich sie noch einmal mit anderen Augen. Ich sorge jetzt mit meiner Arbeit dafür, dass die Kultur der Berber im Bewusstsein bleibt. Das ist für mich nicht nur eine Frage von Notwendigkeit, sondern das ist meine Mission.
„Was waren Deine nächsten Schritte?“
„Ich hatte geplant alle Länder in Nordafrika zu bereisen, um Bildmaterial über die verschiedenen Lebenssituationen der Berber zu sammeln. Doch das Aufkommen des arabischen Frühlings verhinderte zunächst meine Pläne.
Ich bereiste also nur einige afrikanische Länder. 2011 fing ich auf Djerba mit den tunesischen Berbern an. Dann reiste ich nach Nefoussa wo die libyschen Berber gegen den Diktator Gadhafi kämpften. Zur selben Zeit wollte ich eine Reportage über das Tamazgha machen, das „Berberland“ zu dem Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen, das umstrittene Gebiet der Westsahara, Nord Mali, der Norden von Niger, ein Teil des westlichen Ägypten, ein Teil des nördlichen Burkina Faso und die spanischen Enklaven Melilla, Ceuta und die Kanarischen Inseln gehören. Doch es war zu kompliziert und gefährlich, weil die Grenzen zwischen den Staaten geschlossen waren und überall Visa verlangt wurden. Glücklicherweise traf ich beim Amazigh (landessprachlich Berber) World Congress auf Djerba einen Tuareg, der mein Anliegen verstand und versprach, dass ich unter seinem Schutz in Azawad fotografieren könnte. Denn zu dieser Zeit breitete sich bereits der Terrorismus in der Kabylei und Azawad aus. Und so konnte ich wenig später meinen ersten Trip nach Nord Mali machen, der mit vielen schönen aber auch gefährlichen Momenten gespickt war. Wir passierten Mauretanien und ich lernte den kulturellen Reichtum dieser Gegend und die Vielfalt der Berberwelt kennen. Azawad war früher ein Land der Freiheit und saisonalen Migration, ein Durchzugsland für das Nomadenvolk der Berber. Lange verteidigten sie energisch ihr Gebiet, doch das Eindringen der gut ausgerüsteten und bewaffneten Islamisten hat vieles zu ihrem Nachteil verändert.“
„Welche Schauplätze hast Du noch fotografiert?“
„Natürlich die Kabylei, da meine Familie dort immer noch lebt und weitere berbisch sprechende Gebiete in Algerien. Dann habe ich Menschen und ihr Lebensumfeld in den bereits zuvor genannten Berber-Gebieten auf Djerba, in Nefoussa, Nord Mali und Mauretanien fotografiert. Die gefährlichste Reise machte ich nach Ouagadougou (Hauptstadt von Burkina Faso). Auf dem Rückweg passierten wir Gao in Nord Mali und fuhren weiter bis zur algerischen Grenze. Doch die Grenze zwischen Mali und Algerien was geschlossen und die Islamisten und Terroristen waren hinter uns her. Es war also schier unmöglich Nord Mali zu verlassen. Irgendwie schaffte ich es schließlich doch zu fliehen und stand der unermesslichen Weite der Wüste gegenüber. Dank einiger Helfer schaffte ich es bis zur algerischen Grenze, wo ich mich den Sicherheitskräften stellte. Lange und intensiv wurde ich zu meiner Reiseroute und meiner Arbeit verhört. Nach ein paar Stunden wurde ich endlich freigelassen und eine rund 1.500 km lange Reise durch eine Gegend voll von Terroristen, Schmugglern und Kidnappern begann. Es war das erste Mal, dass ich bei einer Reise wirklich Angst hatte und froh war, wieder gesund nach Deutschland zu kommen.
„Wie wurde die bekannte Agentur ‚VU‘ auf Dich aufmerksam?“
„Meine Reportagen hatte ich zunächst bei der Nachrichtenagentur dpa eingereicht und war dann dort z.B. für das Thema Mongolei gelistet. Doch bei dpa wurde ich leider nicht als Partner wahrgenommen, sondern nur als ‚Bildeinreicher‘, was mir nicht reichte.
2012 besuchte ich in Marseille einen Workshop bei einem der Gründer der Agence VU, Christian Caujolle, um meine fotorafischen Fähigkeiten zu verbessern. Christian wird von vielen Fotografen wegen seiner sehr guten Kritiken geschätzt. Er hat auch viele Bücher zur Fotografie veröffentlicht, die mich schon immer fasziniert haben.
Ihm zeigte ich meine Bilder von Nord Mali und bisherigen Veröffentlichungen. Ich vermittelte ihm mein Thema der Berber und meine Idee in schwarz/weiß zu fotografieren. Das überzeugte ihn und er vermittelte mir tatsächlich sofort eine Veröffentlichung in einer italienischen Zeitung. Seine Botschaft an mich lautete: Dein Thema und deine Idee sind gut. Mach weiter so!
Als nächstes lud Christian mich im Mai 2013 zum Festival „Image Singuliaire„, einer bedeutenden Ausstellung für Fotografen, ein. Ich traf ihn dann in Arles wieder und er machte mich sehr glücklich, als er sagte: ‚Du kannst Dich bei VU bewerben.‘ Nach weiteren Reisen um mehr Material über die Berber zu bekommen und sechs Monaten Probezeit bin ich seit 2014 als fester Partner bei Agence VU. Sie behandeln mich so, wie ich es mir von dpa gewünscht hätte, sie sorgen sich um mich, wenn ich auf Reisen bin, und fragen nach woran ich arbeite. Wir stehen in ständigem Kontakt.“
„Was war für Dich bis heute Dein größter Erfolg? Die Reportage über die Berber in der New York Times?“
„Die Fotoreportage über die Berber in der New York Times ist ein Teil meiner Mission. Für mich ist der größte Erfolg, dass ich über meine Arbeit, die Fotografie, tollen Menschen begegne, die ich sonst niemals getroffen hätte. Dazu ein Beispiel: 2013 begleitet ich in Nord Mali ca. 25 Tuaregs. Wir waren mit ein paar Autos unterwegs und machten am frühen Morgen eine Pause. In der Ferne sahen wir ein herannahendes Auto und wussten nicht, ob es ein Freund oder ein Feind ist. Also machten sich meine Begleiter schussbereit. Es war blinder Alarm, denn im Auto saß ein Zivilist. Der Gruppenführer fragte mich anschließend, ob ich Angst gehabt hätte, was ich natürlich bejahte. Daraufhin meinte er: ‚Mach Dir keine Sorgen! Wenn Du stirbst, dann sei gewiss, dass Du als letzter unserer Gruppe stirbst. Wir sterben vorher für Dich, weil Du unser Gast bist!‘ Das hat mich tief bewegt. Davon kann ich kein Bild machen, aber es bleibt in meinem Herzen.“
„Wie wirst Du Deine Mission weiterverfolgen?“
„Ich will als nächstes die Tamazgha Länder bereisen, die ich noch nicht gesehen habe, Bsp. Marokko, Tunesien, Niger, um die dortige Situation der Berber zu fotografieren. Das kostet allerdings viel Geld und ich muss zunächst natürlich über Veröffentlichungen Einnahmen generieren.
Wenn ich wieder zurück bin, werde ich mich darum kümmern, dass meine Reportagen in Zeitschriften, Magazinen und Büchern veröffentlicht werden oder bei Festivals in verschiedenen Ländern ausgestellt werden.“
„Ferhat, ich danke Dir für das Interview und bewundere Deinen Weg. Ich wünsche Dir weiterhin viele tolle Begegnungen sowie großartige Veröffentlichungen!“
Nachtrag vom 02. September 2017:
An diesem Samstag erreicht Ferhat einen weiteren Meilenstein auf dem Weg seine Mission zu erfüllen. Seine Reportage über das Leben der Berber wird bei einer der bekanntesten Fotoausstellungen in Europa vom 02. – 17.09.2017 ausgestellt, der Visa Pour l’Image in Perpignan. Herzlichen Glückwunsch Ferhat!
Fotos: ©Ferhat Bouda/Agence VU – Video: ©videotrotteur.com