Mein Gewissen plagt mich – ein bisschen;-) Der letzte VIP-Letter ist im Dezember 2021 an die Empänger*innen rausgegangen. Jetzt haben wir Ende Oktober 2022. Seit 2015 schreibe ich Blogbeiträge und noch nie habe ich ein Dreivierteljahr nichts von mir hören lassen. Wie kann das sein? Wo ist die Zeit geblieben? Warum habe ich so lange nichts geschrieben? Diesen Blogbeitrag nutze ich zu einer Eigenanalyse, welche Dinge mir die Zeit für das wirklich Wichtige “geraubt” haben. Vielleicht erkennst du in der ein oder anderen Erkenntnis Parallelen zu deinen eigenen Erlebnissen. Lass mich gerne wissen, wie du damit umgegangen bist.
Ein voll gepacktes Jahr
Wie du meinem Lebenslauf und meinen Beiträgen entnehmen kannst, liebe ich Veränderungen und Herausforderungen. Sie bedienen mein Bedürfnis nach stetiger Weiterentwicklung. Doch in diesem letzten Dreivierteljahr habe ich mich überschätzt und den schmalen Grad zur Überforderung fast überschritten. Jetzt bin ich wieder in meiner Mitte und finde wie von selbst den Flow diesen Beitrag zu schreiben. Was war im letzten Jahr passiert, dass ich mich in den letzten neun Monaten nicht aufraffen konnte die Dinge, die mir wichtig sind zu verfolgen und meine Ideenblitze zu Papier zu bringen bzw. in die Tasten zu tippen?
Praxisstudium
Im September 2021 begann ich im Rahmen meines Studiums der Sozialen Arbeit voller Vorfreude mein einjähriges Praxisstudium in Teilzeit (16 Std./Wo.) in einer betreuten Mutter/Vater-Kind-Einrichtung. Meine Aufgabe war es, mit den Frauen an ihren schulischen und beruflichen Perspektiven zu arbeiten – also ganz mein Thema. Ich habe Nachhilfe und Deutschförderung gegeben, zur beruflichen Orientierung gecoacht, einen Schnupper-Vormittag in einem Pflegeheim, einen museumspädagogischen Ausflug ins Käthe-Kollwitz-Museum und ein Fußballtraining mit Frauen von der 1. FC Köln Damenmannschaft organisiert sowie regelmäßige Tanzstunden angeboten. Alles zielte darauf, dass die Frauen, die nicht nur alleinerziehende Mütter sind, sondern auch schlimme Erlebnisse aus ihrer jungen Biografie mitbringen, ihre Potenziale und Ressourcen wieder erkennen. Damit können sie Selbstvertrauen gewinnen und in ihre Selbstwirksamkeit kommen.
Voller Stolz kann ich behaupten, dass mir das bei vielen der Frauen gelungen ist. Ich habe mich nicht von ihren brisanten Geschichten aus der Vergangenheit beherrschen lassen. Ich bin ihnen mit großem Respekt begegnet und habe den Fokus auf das gelegt, was in ihnen steckt. Und so entwickelten sie im Laufe des Jahres mehr Selbstvertrauen und sehen ihrer Zukunft positiv entgegen. Zum Abschied bedankte ich mich für ihr Vertrauen mit einer Discoparty, die uns allen einen Riesenspaß machte.
Diese Arbeit hat mich keine Kraft gekostet, sie hat mir eher Energie für die Erlebnisse im Kontext der Einrichtung gespendet. Ich stieß emotional an meine Grenzen, weil ich miterlebte, wie viele Fördermöglichkeiten für die Frauen liegen gelassen werden, wie Fachkräfte eher bevormunden statt unterstützen oder Anregungen zur Prozessverbesserung im Sande verlaufen. Natürlich ist mir klar, dass manches aus finanziellen Vorgaben nicht geht, aber den Willen, Dinge besser zu gestalten sowie menschliche Wärme, Achtung und Respekt als Haltung gegenüber den Adressatinnen hätte ich nicht nur von einigen Wenigen, sondern von allen, die in diesem Bereich tätig sind, erwartet.
Erkenntnis #1
Ich war ständig in einem inneren Konflikt. Mir fielen kritische Sachverhalte auf, die ich auch teilweise zur Sprache bringen konnte, wie etwa der dort genutzte Begriff “Fallführende” für die sozialpädagogischen Betreuerinnen. Doch in meiner Rolle als Praktikantin auf Zeit war meine Wirkungsmacht sehr gering. Immerhin hatte ich eine “Anleiterin”, die meine Analysen ernst nahm, meine Stärken und mein Engagement erkannte und mich ziemlich eigenverantwortlich agieren ließ. So konnte ich zwar in der beruflichen Förderung einiges in Gang setzen, fühlte mich ansonsten jedoch machtlos den Gegebenheit ausgeliefert. Dass ich nicht mitgestalten konnte, verletzte ein großes Bedürfnis von mir. Ich fühlte mich irgendwie gelähmt und ging innerlich dagegen an.
Mein Job als Referentin
Fast zeitgleich mit dem Beginn meines Praxisstudiums bekam ich in meinem Teilzeitjob (15 Std./Wo.) als Referentin für Interkulturelle Öffnung und Diversity Management eine neue Kollegin, die meine Chefin in Elternzeit vertrat. Wir sind in dem Projekt nur noch zu zweit und somit auf eine enge Zusammenarbeit und gute Abstimmung angewiesen. Meine Chefin und ich sind ein eingespieltes Team und wie selbstverständlich ging ich davon aus, dass es mit der neuen Kollegin ebenso laufen würde. Doch es stellte sich ziemlich schnell heraus, dass wir eine ganz und gar unterschiedliche Herangehens- und Arbeitsweise haben. Hier ein paar Beispiele:
Während ich bei der Vorbereitung auf Workshops und Schulungen die Perspektive der Zielgruppe einnehme und mich versuche in ihre Bedarfe hineinzuversetzen und diese mit entsprechenden Inhalten und Formaten zu erfüllen, holt sie fertige Schulungskonzepte aus der Schublade, die sie ein wenig anpasst. Ich bemühe mich in meiner Denk- und Ausdrucksweise, die Dinge auf den Punkt zu bringen, sie drückt sich dagegen sehr umständlich und kompliziert aus. Ich arbeite pragmatisch, schnell und trotzdem gut durchdacht, während sie langatmige Abwägungsschleifen dreht, die aus meiner Sicht nicht zielführend sind.
Jede Arbeitsweise hat etwas für sich, es kommt auf den Kontext an. In unserem Arbeitsverhältnis führte das natürlich zu Missverständnissen und zu langen Gesprächen, die zum gegenseitigen Verständnis beitrugen. Wir sind aufeinander zugegangen und kamen rund sechs Monate später zu einem guten Arbeitsmodus. Doch dieses aufeinander Einschwingen hat mich viel Energie gekostet.
Erkenntnis #2
Ein gutes Arbeitsklima schafft mir Freiräume für Kreativität und lässt mich konzentriert arbeiten. Wenn ich mich am Arbeitsplatz täglich um den Aufbau oder Erhalt einer guten Beziehungsebene kümmern muss, lenkt das meinen Fokus von meinen Aufgaben ab. Meine Gedanken springen zwischen inhaltlicher und Beziehungsarbeit hin und her. Abends war ich fix und fertig.
Studium
Um mein Studium in Teilzeit möglichst in der Regelzeit von neun Semestern oder zumindest vor meinem 60. Geburtstag zu beenden;-), habe ich auch während des Praxisstudiums drei Seminare belegt. Die Prüfungsleistung bestand jeweils in einer Gruppenarbeit, die in einer gemeinsamen Hausarbeit mündete. Ich hatte bisher immer großes Glück mit meinen Gruppen. Alle Kommiliton*innen waren zuverlässig und engagiert bei der Sache, sodass wir fristgerecht fertig wurden und mit dem Ergebnis sehr zufrieden waren. Rückblickend muss ich feststellen, dass ich häufig diejenige war, die die Fäden zusammengeführt und -gehalten hat.
Erkenntnis #3
Ich nehme gerne die Fäden in die Hand und sorge im eigenen Interesse dafür, dass wir als Gruppe die Arbeit so einreichen, wie ich sie auch alleine abgeliefert hätte. Das bedeutet allerdings auch Mehrarbeit, indem ich beispielsweise die Texte der anderen lektoriere und redigiere. Hätte ich aus meiner “Gewissenhaftigkeit”-Haut rausschlüpfen können, hätte ich vielleicht noch freie Ressourcen gehabt. Ich glaube jedoch eher, dass mir die Gewissenhaftigkeit an der Stelle dann doch wichtiger war, als ein neuer Blogbeitrag.
Regeneriert
Ja, das hört sich viel an und gleichzeitig empfand ich es nicht als zu viel. Aus den oben genannten Gründen war es eher nervig. Es war also nicht das was, sondern das wie, was mich von den Dingen, die mir wirklich wichtig sind, ablenkte. Dank täglicher Meditation und einiger Auszeiten in der Natur – ja, ich habe mir diese bewusst gegönnt, weil sie mir wichtiger waren, als einen Blogbeitrag zu schreiben – war ich Ende August zwar erschöpft, aber dennoch gesund. Ein anschließender wunderschöner Urlaub verhalf mir nach und nach zu neuer Energie, weil ich bewusst und achtsam jeden Augenblick genossen habe. Heute kann ich mühelos und ganz im Fluss diese Zeilen schreiben und meinen inneren Frieden mit dem letzten Jahr machen.