Sicherheit und berufliches Abenteuer – ein Paradoxon?

Die meisten meiner Coachees sind auf der Suche nach der beruflichen Verwirklichung ihrer Ideen und Träume oder nach einer sinnstiftenden Tätigkeit. In der Regel gehen sie einem Job nach, der sie nicht ausfüllt oder sie sind in einem Arbeitsumfeld, das sie einengt statt zu fördern. Im Coaching taucht dann immer wieder die Frage auf, ob sie beispielsweise als Familienvater, alleinerziehende Mutter oder gutverdienende*r Single das berufliche Abenteur wirklich gegen den sicheren, aber ungeliebten Job tauschen wollen. In diesem Beitrag beleuchte ich die dahinterstehenden gedanklichen Konstruktionen und biete ein paar neue Perspektiven an.

Was ist Sicherheit?

Bei der Beschäftigung mit ein paar Definitionen von Sicherheit ist mir aufgefallen, dass der Begriff häufig in Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit verwendet wird. Freiheit und Sicherheit sollen mit den Mitteln des Rechts zugleich verwirklicht werden, was einer Quadratur des Kreises gleicht. Wikipedia besagt, dass Sicherheit allgemein den Zustand bezeichnet, der für Individuen, Gemeinschaften sowie andere Lebewesen, Objekte und Systeme frei von unvertretbaren Risiken ist oder als gefahrenfrei angesehen wird. Da drängen sich mir anschließende Fragen auf: Was sind denn bitte unvertretbare Risiken bzw. wann ist etwas gefahrenfrei? Ist nicht jede Handlung mit einem Risiko verbunden? Wann ist das vertretbar und wann nicht?

In einem sozialphilosophischen Aufsatz von Katrin Meyer heißt es: „Sicherheit ist ein philosophisch normatives Konzept. An den Begriff der Sicherheit geknüpft ist eine Denktradition, die Sicherheit mit staatlicher Gewalt, ökonomischer Entwicklung und individuellem Schutz in Verbindung bringt.“ Gemäß dieser Definition hat diese Denktradition eine Kraft, deren wir uns selten bewusst sind und die dennoch einen starken Einfluss auf unser Handeln ausübt.

Der Wunsch nach Sicherheit ist der Wunsch, das Unbekannte im Voraus zu etwas Bekanntem werden zu lassen.

Lelia Kühne de Haan

Für mich ist der Wunsch nach Sicherheit eine Idee und ein Gefühl. Die Idee ist, dass es eine dauerhafte Sicherheit gibt und so wird der Wunsch danach ebenfalls zum Dauerzustand. Das hat meiner Meinung nach zur Folge, dass man beispielsweise in der Annahme einen sicheren Job zu haben, alles vermeidet, um dieses sichere Gefühl zu gefährden und verschließt sich damit selbst eventuell bessere Chancen und Wege.

Bild von Michal Jarmoluk auf Pixabay

Statt nach Sicherheit zu suchen, frage ich mich beispielsweise eher, wann ich ein gutes Gefühl habe. Gepaart mit konkreten Fakten, die auf Wissen und Erfahrung aufbauen, kann ich Entscheidungen treffen, die auch meine Motive und Bedürfnisse berücksichtigen. Trotz allem bleibt es ein Abenteuer, denn wir wissen nie, was uns erwartet. Das wissen wir allerdings auch nicht, wenn wir morgens aus dem Haus gehen;-)

Den Begriff hinterfragen

Wenn Wirkungsmechanismen von Begrifflichkeiten unbewusst funktionieren, ist man ihnen ausgeliefert. Um das Steuer über das eigene Handeln in die Hand zu nehmen, ist es also wichtig, sich ein paar Fragen zur Bedeutung bestimmter Begriffe zu stellen. Hier ein paar Anregungen zum Wunsch nach Sicherheit:

  • Wie denkst du Sicherheit? Was verknüpfst du mit dem Begriff? Unterscheide zwischen verschiedenen Aspekten, z.B. finanzielle, persönliche, berufliche Sicherheit. Ich empfehle dir, einen 10-Minuten-Text über deine Gedanken zur Sicherheit zu schreiben.
  • Welches körperliche Gefühl verbindest du mit Sicherheit? Versuche eine Situation nachzuempfinden, in der du dich besonders sicher gefühlt hast. Achte dabei auf deine körperlichen Reaktionen, z.B. Atmung, Haltung, Muskeltonus.
  • Welche konkreten Faktoren oder Rahmenbedingungen verschaffen dir ein sicheres Gefühl? Hierbei solltest du sehr konkrete Sätze formulieren und diese aufschreiben, z.B. „Ich brauche monatlich xy Geldbetrag, um ruhig schlafen zu können.“ oder „Ich möchte meine Fähigkeiten xy in einem neuen Job einsetzen, denn damit fühle ich mich kompetent.“
  • Was haben dir deine Eltern/deine Familie zum Thema Sicherheit mitgegeben? War deine Kindheit eher von „du schaffst das schon“ oder eher von „das ist zu gefährlich“ geprägt? Welche prägenden Begebenheiten oder Muster fallen dir ein? Was davon lebt heute noch eher unbewusst in dir weiter?

In der Folge beleuchte ich die Aspekte der persönlichen und beruflichen Sicherheit und Freiheit.

Lebensläufe ändern sich

In meinem derzeitigen Teilzeit-Studium der Sozialen Arbeit hatte ich gerade eine Vorlesung zum Thema Soziologie von Lebensläufen. In einigen Studien dazu hat man festgestellt, dass aufgrund institutioneller Veränderungen, z.B. Wegfall des klassischen Familienlebens durch Berufstätigkeit beider Elternteile, durch Digitalisierung veränderte Arbeitsbedingungen oder späterer Renteneintritt, bestimmte tradierte Elemente an Gültigkeit verlieren. Während früher etwa die Eltern noch den beruflichen Lebensweg der Kinder vorbestimmten, wäre das mit dem heutigen Freiheitsgedanken unvereinbar. Diese Freiheiten bringen allerdings mit sich, dass man die Wahl hat und Entscheidungen treffen muss. Bei vielen Jugendlichen, die am Ende ihrer schulischen Bildung angekommen sind, kann man erkennen, wie schwer sie sich mit dieser Freiheit tun.

Die beruflichen Lebensläufe haben sich ebenfalls drastisch verändert. Wer früher bei einem großen Unternehmen die Ausbildung absolvierte, ging selbstverständlich davon aus, dass er*sie von dort auch in Rente geht. Entsprechend wurden bei Bewerbungen stringente Biografien gefordert. Ich hatte mit meinem bewegten Lebenslauf ohne Studium und so vielen unterschiedlichen Jobs kaum eine Chance, wenn ich mich gegen andere Bewerber*innen durchsetzen wollte.

Bild von Pete Linforth auf Pixabay

Heute sieht das anders aus. Große Konzerne werden in kleinere Unternehmen geteilt oder Bereiche ausgegliedert. Neue Märkte tun sich auf, andere verschwinden. Das dynamische Umfeld ist alles andere als sicher und wer sich nicht anpassen kann, verliert im schlimmsten Fall den Job. Auf der anderen Seite wollen viele junge Menschen bis zu ihrem Renteneintritt gar keinen nine-to-five-Job in ein und demselben Unternehmen. Sicherheit spielt für sie keine so große Rolle, wie noch für die Generation ihrer Eltern.

Wie lassen sich der Wunsch nach Sicherheit und nach beruflicher Neuorientierung miteinander vereinen?

Die Generation der jetzt Ü40-Jährigen möchte ebenfalls die Freiheit nutzen und die heutigen Möglichkeiten ausschöpfen. Gerade während der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Arbeit im Home Office wurde durch die räumliche Distanz einigen klar, dass sie in einer beruflichen Sackgasse stecken. Was sich zu Beginn des Berufslebens noch richtig und wichtig anfühlte, wird nach vielen Jahren in einer Tätigkeit oder in einem Unternehmen in Frage gestellt. Doch wie lässt sich nun der gewohnte und vielleicht auch berechtigte Wunsch nach Sicherheit mit dem Wunsch ins berufliche Abenteuerland zu reisen, vereinbaren? Nun, den pauschalen Königsweg habe ich auch nicht, aber gerne ein paar Impulse:

Sich neuen Aufgaben stellen, führt zu mehr Sicherheit

Unsicher fühlt man sich meistens dann, wenn man keine oder schlechte Erfahrung mit neuen Aufgaben oder Situationen gemacht hat. Mehr Sicherheit kann dementsprechend nur aus neuen Erfahrungen erwachsen. Das mag jetzt vielleicht seltsam klingen, aber wenn du mehr Sicherheit gewinnen möchtest, solltest du dich auf neue Wege einlassen. Ich spüre, dass ich mit jeder neuen beruflichen Herausforderung besser umgehen kann, da ich mit jeder beruflichen Veränderung zunehmend an Erfahrung, Selbstvertrauen und Scheiterbereitschaft gewonnen habe.

Die Kunst der abtastenden Schritte

Ich empfehle dir, dich in kleinen Schritten an große Veränderungen heranzutasten. Willst du dich beispielsweise selbständig machen, dann versuche es vielleicht erst einmal mit einer überschaubaren Teilzeit-Selbständigkeit, die ein für dich vertretbares finanzielles Risiko birgt.

Baue dir Testfelder auf, in denen du praktische Erfahrungen sammeln kannst. Lerne aus jeder Erfahrung. Die schlechten sind meistens hilfreicher, als die guten Erfahrungen, denn aus ihnen lernen wir mehr – allerdings nur, wenn wir sie konstruktiv nachbearbeiten. Du könntest mal überlegen, wo du mehr über deine angestrebte neue Tätigkeit erfahren kannst, z.B. über Foren, Praktika, Weiterbildungen. Mit zunehmendem Wissen kannst du besser einschätzen, welcher Weg für dich passt und ein sicheres Gefühl vermittelt.

Scheitern ist gut

Die Kür im Auf-sich-was-Neues-einlassen ist, sich das Scheitern zu erlauben. Sicherlich verleitet ein angestrebter beruflicher Neuanfang gerade im fortgeschrittenen Alter eher zu der Idee, dass soll der letzte Wechsel gewesen sein. Doch auch das ist ein Gedankenkonstrukt von Sicherheit, die nicht garantiert werden kann. Hier hilft vielleicht das Motto „Alles, was geschieht, ist für etwas anderes gut“. Ich habe das Scheitern gerade bei meinen Bewerbungen für das Praxisstudium erlebt. Von drei sicher geglaubten Praxisstellen bekam ich Absagen, weil ich bei den Vorstellungsgesprächen nicht überzeugen konnte. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, war ich dankbar für meine schlechten Auftritte. Es wären nicht die richtigen Stellen gewesen und ich bekam die Gelegenheit, mich auf passendere Praktikumsplätze zu bewerben. Prompt bekam ich nach dem ersten Gespräch eine Zusage:-)

Fazit

Sicherheit und berufliche Abenteuer einzugehen sind meines Erachtens kein Widerspruch, sondern eine logische Folge. Der Weg zum Gewinn von mehr persönlicher und beruflicher Sicherheit führt für mich über das Ausprobieren und sich auf neue berufliche Abenteuer Einlassen. Wenn ich finanziell abgesichert sein möchte, stelle ich mir die Frage: „Was genau brauche ich zum Lebensunterhalt und wie kann ich dafür sorgen, dass mir dieser Betrag zur Verfügung steht, selbst wenn ich mit der beruflichen Neuorientierung scheitere?“ Das gab und gibt mir auch in Zukunft die Freiheit, mich mit einem Auffangnetz auf berufliche Abenteuer einzulassen.

Beitragsbild auf Startseite von 愚木混株 Cdd20 auf Pixabay

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