Vor ein paar Wochen sagte meine Kusine zu mir: „Ich finde es bewundernswert, wie Du Dir immer wieder die Freiheit nimmst, beruflich den Weg zu beschreiten, der Dich erfüllt.“ Damit spielte sie auf mein gerade begonnenes Teilzeitstudium der Sozialen Arbeit an. JA, habe ich innerlich und äußerlich gestrahlt! Ich würde es auch immer wieder so machen. Doch, wie kann ich das so spielerisch leicht behaupten? Hätte ich den Weg der beruflichen Freiheit auch gehen können, wenn ich in einem anderen Milieu aufgewachsen wäre oder Kinder hätte? In Anlehnung an die Theorie zur Sozialen Arbeit von Lothar Böhnisch (*1944) würdige ich in diesem Beitrag kritisch meine berufliche Freiheit.
Umbruch
Aufgrund der Globalisierung, der zunehmenden Spezialisierung, der Digitalisierung, der Mobilität und der Ökonomisierung unserer Gesellschaft ist unser Leben in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur unübersichtlicher, sondern auch von ständiger Veränderung und Anpassung geprägt. Wer beim Heranwachsen nicht gelernt hat, damit umzugehen, reibt sich leicht an den komplexen Anforderungen oder scheitert eventuell sogar daran. Die altbekannten Werte und Normen aus der Generation meiner Eltern, wie beispielsweise der höfliche und respektvolle Umgang miteinander, das füreinander Dasein und sich helfen, erlebe ich heute kaum noch. Unternehmen, die früher von vielen wie „die zweite Familie“ empfunden wurden, gibt es kaum noch. Stattdessen werden Arbeitsplätze ins Ausland verlegt oder wegrationalisiert und durch die ständigen Prozessoptimierungen in Unternehmen Teams auseinandergerissen. Die Folge: Um überhaupt noch klar zu kommen, fahren viele ihre Ellbogen aus. Im Wettbewerb um die besten Plätze führen sie sich auf, wie die Gladiatoren bei Brot und Spiele in einer römischen Arena.
Entscheidungsfreiheit
Andererseits schafft uns eben dieser gesellschaftliche Wandel auch die Freiheit, unser Leben in die Hand zu nehmen und nach eigenem Willen zu gestalten. Das wäre vor 50 Jahren noch undenkbar gewesen. Diese Freiheit stellt uns allerdings auch vor viele Möglichkeiten und beinhaltet die Qual der Wahl mit sich. Entscheidungen zu treffen, hat etwas mit Selbstvertrauen, freiem eigenen Willen und einem besonders achtsamen und reflexiven Umgang mit den eigenen Befindlichkeiten zu tun. Nur wer das im Rahmen seiner/ihrer Sozialisation gelernt hat, vermag auch eigenverantwortlich und gestalterisch mit den Folgen der Freiheit umzugehen.
Ich hatte wie gesagt das unbeschreibliche Glück, in einem Milieu aufzuwachsen, was mir familiäre Stabilität, freien Zugang zu Bildung, finanzielle Grundlage sowie eine gewisse Intelligenz und uneingeschränkte Liebe in die Wiege gelegt hat. Dafür bin ich sehr dankbar! Durch diesen Nährboden konnte ich Selbstvertrauen aufbauen und auch Rückschläge und Niederlagen in meinem Leben gut bewältigen. Mittlerweile verstehe ich sie sogar als hilfreiche Lernprozesse im Rahmen meines persönlichen Wachstums. Ich habe im Lauf meines Lebens gelernt, selbstreflexiv zu agieren, Handlungsoptionen abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Ich kann die Konsequenzen meiner Entscheidungen tragen, ohne andere dafür verantwortlich zu machen. Das schafft mir die Freiheit für meinen beruflichen Werdegang. Und der wäre bestimmt ganz anders verlaufen, wenn ich Kinder hätte.
Nicht alle haben diesen Nährboden
Bisher habe ich immer behauptet, dass in Deutschland jede/r die Chance hat, den eigenen beruflichen Weg einzuschlagen, wenn man es nur von ganzem Herzen will. Dazu habe ich auch einige Blogbeiträge verfasst, wie z.B. Die Rolle des Selbstwertgefühls oder die Triologie 3 hilfreiche Eigenschaften bei Veränderung. Nach den ersten Erkenntnissen aus meinem Studium, gestehe ich gerne ein, dass es eben nicht so leicht ist. Wir alle sind irgendwie Gefangene unserer Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus, zu Gruppen, Vereinen oder Clans, zum häuslichen Umfeld. Denn sie bieten uns den Halt, der uns z. B. am Arbeitsplatz verloren geht. Wir wollen dazugehören und wägen selten ab, ob gerade diese Zugehörigkeit für unsere persönliche Entwicklung nützlich oder schädlich ist. Aus meiner komfortablen Erfahrung heraus kann ich also leicht propagieren, dass in Deutschland jeder Mensch sein Ziel verfolgen kann, solange er oder sie das nur unbedingt will. Doch die Chancengleichheit kann noch so gewollt sein, ob jemand sie nutzt oder nicht, wird wahrscheinlich eher davon abhängen, welche unbewussten systemischen Zwänge er oder sie im Gepäck hat.
Selbstprüfung
Wer die eigene Freiheit nutzen will und sich mit dem Gedanken trägt, sich vielleicht im nächsten Jahr beruflich verändern zu wollen, sollte deshalb erst einmal abwägen:
- Was würde wer aus meinem Umfeld (Partner*in, Kinder, Eltern, Freund*innen, Kolleg*innen, …) sagen, wenn ich erzähle, dass ich mich beruflich verändern will?
- Was wurde mir in die Wiege gelegt oder habe ich im Lauf meines Lebens gelernt, was mir bei meiner persönlichen Entwicklung hilft?
- Welche Kräfte würden meine berufliche Veränderung fördern, welche verhindern?
- Was würde ich für mich Haltbringendes aufgeben? Was könnte mir stattdessen Halt und Sicherheit geben?
- Auf was würde ich im Sinne meiner Weiterentwicklung verzichten?
- Welche Kriterien könnten mir helfen herauszufinden, ob es mein freier eigener Wille ist oder eventuell der, einer anderen Person aus meinem Umfeld?
- Was würde ich gewinnen, wenn ich mich beruflich verändere?
- Was könnte schlimmstenfalls passieren, wenn ich das Wagnis einginge?
Aus eigener Erfahrung heraus, empfehle ich Dir, Deine Optionen nicht nur sorgfältig kognitiv abzuwägen. Frage Dich auch, was Dein Herz höher schlagen lässt und überprüfe dann, was in Deinem Kontext möglich ist. Denn wie Goethe bereits wusste:
Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.
Goethe
Ich wünsche Dir eine Wahl, die sich für Dich in Deinem Umfeld gut anfühlt!